Wie das „Du“ zu „Ihr“ wurde

DAS 11. JAHRHUNDERT / Erst ein Ausdruck des Respekts und später der Verachtung

Unterschiede in der Anrede spiegeln auch real existierende Unterschiede wider

Zunächst waren alle per „Du“. Doch irgendwann haben sich die gesellschaftlichen Unterschiede auch in der Anrede niedergeschlagen. Davon liefert das um 1080 gedichtete mittelhochdeutsche „Annolied“ ein kurzes, aber bemerkenswertes Zeugnis. Du oder Sie? Die Frage stellte sich vor neun Jahrhunderten noch anders, nämlich „Du oder Ihr?“ Kein geringerer als Caesar habe den Deutschen das „Ihrzen“ beigebracht, so berichten die anonymen Autoren, die damals das Leben des Kölner Erzbischofs Anno (gestorben 1075) in Verse gefaßt haben. Nachdem Caesar den Pompejus besiegt hatte, hätten die Römer dem Sieger zu Ehren einen neuen Brauch begonnen und fortan „Ihr“ zu ihm gesagt. Das Annolied nennt sogar einen logischen Grund für die Anrede in der Mehrzahl: Schließlich habe Caesar die Macht, die zuvor auf mehrere verteilt war, auf sich alleine vereint. Caesar habe dann diese neue Anreden-Sitte auch „deutschen Leuten“ beigebracht. Man muß diese Geschichte nicht glauben. Sicher aber ist, daß das deutsche „Ihr“ dem Vorbild des romanischen bzw. französischen „vos“ nachempfunden ist. Der früheste Beleg für ein deutsches „Ihr“ stammt aus dem Jahr 865; Otfried von Weißenburg hat den Bischof Salomo von Konstanz mit diesem „pluralis reverentiae“ tituliert. Das mag allerdings noch eine Ausnahme gewesen sein. Stärkere Bedeutung könnte das „Ihr“ im 11. Jahrhundert gewonnen haben. Denn damals gliederte sich die Gesellschaft zunehmend in über- und untergeordnete Stände auf, was einen Wandel im Verhalten dieser Schichten untereinander bewirkt hat. Daher wird es kaum ein Zufall sein, wenn im damals entstandenen Annolied das „Ihrzen“ als einzige zivilisatorische Errungenschaft genannt ist, welche die Deutschen von Caesar gewonnen haben. Gute hundert Jahre später, als das Niebelungenlied formuliert wurde, war es bereits gute Sitte, die Damen zu ihrzen, zumindest, wenn sie Königinnen waren: Hagen ihrzte Krimhild – zunächst. Nachdem die jedoch ihren Bruder Gunther hatte enthaupten lassen, verlor Hagen die Fassung und wechselte wieder in die Einzahl, wobei dieses „Du“ alles andere als ein trautes war. War das „Ihr“ in seiner Anfangsphase Ausdruck vorzüglichster Hochachtung, so verfiel sein Glanz im Laufe der Jahrhunderte. Das hing damit zusammen, da8 die Anzahl der Anrede-Pronomina bis zum Ende des 17. Jahrhunderts auf fünf angewachsen war: Du, Er, Sie (Einzahl weiblich), Ihr, Sie (Mehrzahl). Zunächst, Ende des 16. Jahrhunderts, war zu der traditionellen direkten Anrede Du/Ihr die distanziertere indirekte getreten, nämlich das „Er“ für den Herren und das „Sie“ (Einzahl) für die Dame: „Hat Er/Sie wohl gespeist?“ Und so, wie das Du eine Steigerung in seiner Mehrzahlform „Ihr“ gefunden hatte, wurden das „Er“ bzw. „Sie“ gegen Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls durch die entsprechende Pluralform überhöht: durch das „Sie“, wie wir es heute noch benutzen: „Haben Sie wohl gespeist?“

Zurück vom „Sie“ zum „Du“?

Wem gegenüber wurde nun welche Anrede gebraucht? Der Sprachforscher Johann Christoph Adelung (1732-1806) gibt die Antwort: „Du wird nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit und 4. in dem Tone der hochgebiethenden Herrschaft und der tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere mit dem Demonstrativo Dieselben … an.“
Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, daß man lieber mit Du als mit Ihr angesprochen wurde. Das aber lag daran, daß das Ihr zum Ausdruck der Geringschätzigkeit geworden war. Dieses Zurück vom Ihr zum Du ist also in keiner Weise zu vergleichen mit dem Wechsel vom Sie zum Du, der im Zuge der 68er Bewegung des 20. Jahrhunderts zu beobachten war. Dieser Wechsel entsprang dem Aufbegehren gegen etablierte Formen, dem Bedürfnis nach Solidarität.
Wie rasch und in welcher Form dieser Wechsel sich vollzogen hat, wird vom Anredeforscher Werner Besch in seinem Buch „Duzen, Siezen, Titulieren“ ausführlich dargestellt. Dem ist unter anderem zu entnehmen, daß die Möbelfirma Ikea allen ihren Mitarbeitern das gegenseitige Du verordnet hat.

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